Proteste in Georgien 2024

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Die Proteste in Georgien 2024 sind eine Reihe anhaltender Proteste, ausgelöst durch die Entscheidung der neuen georgischen Regierung zur Aussetzung der Beitrittsverhandlungen Georgiens mit der Europäischen Union. Dem gingen Parlamentswahlen im Oktober 2024 voraus, die von vielen Beobachtern als gekennzeichnet von Wahlmanipulation eingeschätzt werden und deren Ergebnis die pro-europäische Opposition nicht anerkennt.

Bidsina Iwanischwili war Spitzenkandidat der Partei Georgischer Traum, ist deren Gründer und wird als Milliardär mit internationalen Geschäftsbeziehungen auch als Oligarch und Strippenzieher in der Regierungspartei angesehen.

In den Jahren bis 2024 kam es immer wieder zu Protestbewegungen in Georgien, die sich gegen die Regierungspartei und deren zunehmend als pro-russisch wahrgenommene Politik richteten. So wurden im Rahmen von Protesten in den Jahren 2023 und 2024 gegen Gesetze demonstriert, nach denen Medien und Organisationen als „ausländische Agenten“ eingestuft werden können.

Bei den Parlamentswahlen am 24. Oktober 2024 ging nach offiziellem Wahlergebnis die regierende Partei Georgischer Traum als Sieger mit absoluter Mehrheit hervor. Der Rest der Stimmen verteilte sich zu etwa gleichen Teilen auf vier Oppositionsbündnisse. Beobachter sprechen von Wahlbetrug und Wahlbeeinflussung bis hin zu Bedrohungen und Stimmkauf vor und während der Wahl. Mehrere Institute kommen zur Einschätzung, dass das verkündete Wahlergebnis statistisch unmöglich oder nur durch Wahlbetrug zu erklären ist. Infolgedessen kam es zu Protesten sowie einer Ablehnung und Anfechtung des Wahlergebnisses durch die Opposition, zu denen auch die Präsidentin Georgiens Salome Surabischwili gehört. Während sich die Oppositionsbündnisse und die Präsidentin für eine stärkere Integration nach Westen in die Europäische Union und die NATO einsetzen, wird die regierende Partei Georgischer Traum als russlandnah wahrgenommen, wobei sie im Wahlkampf den EU-Beitritt weiterhin als Ziel ihrer Politik ausgegeben hat. Die Proteste gegen die Wahl hielten zwar an, flauten mit der Zeit aber ab.[1]

Obwohl die Anfechtung und Untersuchungen zu Wahlmanipulationen noch liefen, trat das neue Parlament am 28. November 2024 zu einer konstituierenden Sitzung zusammen. Die Sitzung wurde von allen Oppositionspolitikern boykottiert und nur die Abgeordneten der Regierungspartei und deren Verbündete nahmen teil. Die Rechtmäßigkeit des neuen Parlaments wird von Verfassungsrechtlern in Zweifel gezogen. Dennoch wurde das Kabinett Kobachidse II als neue Regierung ins Amt gewählt und ein Regierungsprogramm verkündet. Dieses beinhaltet die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen Georgiens mit der Europäischen Union. Die Verhandlungen hatten erst gut ein Jahr zuvor begonnen und werden von weiten Teilen der georgischen Gesellschaft unterstützt.

Demonstranten vor dem Parlament in Tiflis am 2. Dezember.
EU-Flagge vor brennenden Barrikaden in Tiflis am 2. Dezember.

Nachdem das Programm mit der Aussetzung der Beitrittsverhandlungen öffentlich wurde, begannen noch am gleichen Abend[2] Protesten nicht nur gegen das Ergebnis der Parlamentswahl, sondern insbesondere gegen diese Entscheidung sowie für eine weitere Integration Georgiens in die EU. Die Demonstrationen fanden von da an täglich mit tausenden Teilnehmern statt[3] und endeten in Tiflis in der Regel vor dem Parlament Georgiens auf dem Rustaweli-Boulevard. Die Kundgebungen verlaufen meist ohne Reden und ohne erkennbare Führungsfigur.[4] Neben Vertretern der georgischen Opposition sowie der noch amtierenden Präsidentin Surabischwili wandten sich auch zahlreiche Beamte in den Regierungsbehörden in gemeinsamen Stellungnahmen gegen die Entscheidung. Die Universität von Georgien sowie weitere Institutionen stellten ihre Arbeit ein und riefen zum Protest auf. Proteste begannen daraufhin auch in weiteren Städten des Landes.[2]

Die Polizei setzte gegen die Protestierenden Tränengas und Wasserwerfer ein und nahm in den ersten zwei Wochen über 400 Menschen fest. Dabei sollen zahlreiche Demonstrierende von der Polizei verprügel worden sein. Der Regierung wird vorgeworfen, Schlägertrupps einzusetzen, um Menschen von der Teilnahme an den Protesten abzuhalten. Protestierende wiederum errichteten Barrikaden und warfen Feuerwerkskörper auf Polizisten. Mit Beginn der Proteste wurde das Parlament in Tiflis mit Barrikaden abgeriegelt, um Demonstranten den Zugang zu verwehren. Auf dem Platz wurde von der Stadtregierung der Weihnachtsbaum aufgerichtet. Demonstranten hingen dort Bilder der Opfer von Polizeigewalt auf, um diese anzuprangern, was bald von der Polizei unterbunden wurde. Darüber hinaus kam es zunehmend zu Angriffen auf Journalisten, die für regierungsunabhängige Fernsehsender arbeiten. Sie werden von Mobs angegriffen, beraubt und verletzt.[3] In der Taz wird von „Gewaltexzessen“ gegen die Demonstrierenden berichtet. Polizeistationen der Hauptstadt und umliegender Städte seien überfüllt, wo Menschen tagelang festgehalten werden, ehe ein Gerichtsverfahren stattfindet.[4]

Am 14. Dezember fand die Präsidentschaftswahl statt, bei der das Amt erstmals durch ein Wahlgremium besetzt wurde, das zur Hälfte aus Parlamentsabgeordneten besteht. Sieger und einziger Kandidat wurde der regierungsnah geltende, ehemalige Fußballer Micheil Kawelaschwili. Wegen der Nichtanerkennung beziehungsweise Illegalität des Parlaments wurde auch die Präsidentschaftswahl von der Opposition boykottiert und das Ergebnis nicht anerkannt.[5] Auch die bisherige Präsidentin erkennt das Ergebnis nicht an und will ihr Amt nicht verlassen, bis ein legitimer Nachfolger gewählt ist. Von Demonstrierenden wurde neben dem Verfahren auch die mangelnde Bildung und Qualifikation von Kawelaschwili kritisiert. Die amtierende Präsidentin Surabischwili wird von den Protestierenden zunehmend als Integrationsfigur und Ikone der Protestbewegung wahrgenommen.[6][7]

Die traditionelle Illuminierung des Weihnachtsbaums vor dem Parlamentsgebäude wurde vom Bürgermeister Kacha Kaladse, Mitglied des Georgischen Traum, angekündigt, musste aber schließlich wegen der anhaltenden Demonstrationen abgesagt werden.[6]

Präsidentin Salome Surabischwili bei ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament am 18. Dezember 2024 mit der Forderung, die Protestbewegung in Georgien zu unterstützen.

In der zweiten Dezemberhälfte wechselte die Oppositionsbewegung ihre Strategie zu diversen Demonstrationen, die jeweils gleichzeitig stattfinden und unterschiedlichen Berufsgruppen, Szenen, Minderheiten und Regionen gewidmet sind. Die Demonstrationszüge treffen sich zum Abend hin am Parlament.[7] Unter den Gruppen, die sich zu Märschen zusammenschlossen, sind beispielsweise Ärzte, Germanisten, georgische Armenier oder Aserbaidschaner oder Menschen aus Mingrelien und Kachetien.[1] Am 29. Dezember endet offiziell die Amtszeit der Präsidentin und Micheil Kawelaschwili soll als neuer Präsident ins Amt eingeführt werden. Surabischwili will ihr Amt an diesem Tag jedoch nicht räumen. Am 21. Dezember setzte sie der Regierung ein Ultimatum zu Verhandlungen über Neuwahlen. Ihre Rede dazu auf der Großdemonstration wurde von der Polizei durch Beschlagnahme der Veranstaltungstechnik erschwert und während der Rede kam es zu technischen Störungen. Die Regierung wiederum hatte angekündigt, die Präsidentin verhaften zu wollen, wenn sie ihren Amtssitz nicht verlässt.[7][8] Nach einer am 24. und 25. Dezember von IPM durchgeführten Umfrage sehen 46 % Georgier weiterhin Surabischwili als Präsidentin, nur 22 % erkennen Kawelaschwili an.[9]

Am 28. Dezember fanden Menschenketten in vielen Städten Georgiens statt, die symbolisch für Zusammenhalt und den Schutz der Demokratie stehen sollen.[10] Dabei nahmen Zehntausende teil. In Tiflis erstreckte sich die Kette über alle Brücken über die Kura in der Stadt und die Straßen dazwischen. Zugleich häuften sich Berichte, dass Mitarbeiter von Behörden, Firmen und Kulturinstitutionen wegen Kritik an der Regierung gekündigt wurden.[11][12] Am 29. Dezember fand dann vormittags eine Kundgebung am Orbeliani-Palast statt, während der Surabischwili ihren Amtssitz verließ und die Demonstration zum Parlament begleitete. Sie sprach davon, dass sie die Wahl ihres Nachfolgers nicht anerkenne und die Legitimität des Amts mit sich nehme. Währenddessen fand im Parlament die Vereidigung Kawelaschwilis statt,[13][14] nur mit Vertretern der Regierung, ohne Oppositionsvertretern und ohne Diplomaten. Gegen die Kundgebung vor dem Parlament ging erneut die Polizei vor und nahm Teilnehmer fest. Auchin Batumi fand eine Demonstration gegen die Regierung statt.[15][16]

Die Proteste hielten auch am 30. und 31. Dezember an, auch wenn der Auszug Surabischwilis für Verunsicherung gesorgt hat. Am Silvesterabend gingen in Tiflis Zehntausende auf die Straße und teilten an einer kilometerlangen Tafel gegenseitig Essen und verteilten Geschenke. Laut Surabischwili kamen 200.000 Teilnehmer. Kawelaschwili hat unter seinen ersten Amtshandlungen vom Parlament zuvor beschlossene Gesetze erlassen, die polizeiliches Vorgehen gegen Demonstrationen erleichtern, Vermummung, Laser und helle Taschenlampen auf Kundgebungen verbieten und hohe Strafen sowie präventive Festnahmen vorsehen.[17] Regierung und regierungsnahe Medien verbreiteten eine Gratulation des georgischen Patriarchen Ilia II. an Kawelaschwili zu dessen Amtseinführung, die jedoch nicht über offizielle Kanäle der Kirche oder andere Medien veröffentlicht wurde.[18] Von NATO-Generalsekretär übersandte Glückwünsche zum neuen Jahr wurden von der Regierung als Bestätigung angesehen, wonach ein NATO-Vertreter jede tiefere Bedeutung der Glückwünsche dementierte.[19]

Zu Beginn des Jahres 2025 wurden mehrere Entlassungen bekannt: Die Wahlkommission entließ einen Berater, der die gewaltsame Unterdrückung der Proteste öffentlich kritisiert hatte. Ähnliche Entlassunge gab es beim Führungspersonal in der Behörde für Resozialisierung Strafgefangener. Am Theater Tiflis wurden Aufführung wegen der Inhaftierung eines Schauspielers abgesagt.[19]

Reaktionen außerhalb Georgiens

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Wegen des gewaltsamen Vorgehens gegen die Protesten wurden Mitglieder der georgischen Regierung von den USA, dem Vereinigten Königreich sowie von den baltischen Staaten mit Sanktionen belegt.[8] Insbesondere Iwanischwili als hauptsächlich für die Regierungspolitik verantwortlich gesehener ist im Visier der Sanktionen und wird von den USA und aus dem Baltikum adressiert. Aus Frankreich wurde die Ankündigung einer Festnahme der Präsidentin als inakzeptabel bezeichnet und die Ehrung Iwanischwilis mit der Ehrenlegion wurde zurückgenommen.[12] Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kündigte an, dass keine neuen Projekte zur Entwicklungszusammenarbeit mit Georgien finanziert würden und Sanktionen gegen Regierungsmitglieder EU-weit geprüft würden.[1] Wegen Verletzung von Menschenrechten und Verantwortung für Gewalt gegen Demonstranten erließ Deutschland am 31. Dezember 2024 gegen neun ungenannte Vertreter der georgischen Regierung Einreisesperren. Außerdem wird zusammen mit anderen EU-Staaten die Visafreiheit für georgische Amtsträger ausgesetzt.[20]

In Solidarität mit den Protesten fanden auch international Kundgebungen statt. In Deutschland protestierten beispielsweise Theater am 19. Dezember.[21] Am 28. Dezember beteiligten sich Menschen an Solidaritäts-Menschenketten, zeitgleich zu denen in Georgien, in 40 Städten weltweit, darunter in Deutschland in Saarbrücken, Partnerstadt von Tiflis.[10][11] Nach der Vereidigung Kawelaschwilis als neuen Präsidenten dankten Vertreter europäischer Regierungen Surabischwili für ihre Bemühungen um die europäische Integration Georgiens. Europäische und amerikanische Abgeordnete sowie die Organisationen der liberalen Parteien riefen dazu auf, Kawelaschwili nicht anzuerkennen und nur Surabischwili als Vertreterin Georgiens zu akzeptieren.[16] Am 3. Januar gratulierte der chinesische Präsident Xi Jinping Kawelaschwili zur Amtsübernahme.[22]

Einzelnachweise

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  1. a b c Silvia Stöber: Georgien - Ein Duell mit ungewissem Ausgang. Abgerufen am 28. Dezember 2024.
  2. a b O. C. Media: Live updates | Fallout from announcement on Georgia’s halting of EU accession continues. 29. November 2024, abgerufen am 29. November 2024 (englisch).
  3. a b Proteste in Georgien: "Wir werden nicht aufhören". Abgerufen am 28. Dezember 2024.
  4. a b Nastasia Arabuli: Massenproteste in Georgien: Im Widerstand. In: Die Tageszeitung: taz. 13. Dezember 2024, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 28. Dezember 2024]).
  5. Georgien: Regierungskandidat Kawelaschwili zum Präsidenten gewählt. Abgerufen am 28. Dezember 2024.
  6. a b Barbara Oertel: Präsidentenwahl in Georgien: Mikheil Kawelaschwili köpft ein. In: Die Tageszeitung: taz. 14. Dezember 2024, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 28. Dezember 2024]).
  7. a b c Markus Reuter: Endkampf um die Demokratie in Georgien: Mit Wut, Tanz und Courage. 23. Dezember 2024, abgerufen am 28. Dezember 2024 (deutsch).
  8. a b Markus Reuter: Proteste für Demokratie: Krise in Georgien spitzt sich zu. 25. Dezember 2024, abgerufen am 28. Dezember 2024 (deutsch).
  9. IPM: გამოკითხულთა 46% პრეზიდენტად სალომე ზურაბიშვილს მიიჩნევს, 22% - ყაველაშვილს. 26. Dezember 2024, abgerufen am 3. Januar 2025 (georgisch).
  10. a b tagesschau.de: Saarland: Rund 100 Menschen beteiligen sich an Solidaritäts-Menschenkette für Georgien. Abgerufen am 28. Dezember 2024.
  11. a b Markus Reuter: Demokratieproteste: Zehntausende demonstrieren mit Menschenkette in ganz Georgien. 28. Dezember 2024, abgerufen am 28. Dezember 2024 (deutsch).
  12. a b Georgia live updates | US sanctions Ivanishvili ahead of Kavelashvili’s inauguration. 28. Dezember 2024, abgerufen am 28. Dezember 2024 (englisch).
  13. Kawelaschwili als Präsident Georgiens vereidigt. Abgerufen am 29. Dezember 2024.
  14. Trotz wochenlanger Proteste: Ex-Fußballprofi Kawelaschwili als Präsident von Georgien vereidigt. In: Der Spiegel. 29. Dezember 2024, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 29. Dezember 2024]).
  15. Barbara Oertel: Neue Regierung in Georgien: KO immer noch nicht k. o. In: Die Tageszeitung: taz. 29. Dezember 2024, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 29. Dezember 2024]).
  16. a b Georgia live updates | Kavelashvili inaugurated against a backdrop of protests. 29. Dezember 2024, abgerufen am 29. Dezember 2024 (englisch).
  17. Markus Reuter: Proteste in Georgien: „Es gibt kein Zurück“. 31. Dezember 2024, abgerufen am 3. Januar 2025 (deutsch).
  18. Georgia live updates | New president approves repressive laws as protests continue. 30. Dezember 2024, abgerufen am 3. Januar 2025 (englisch).
  19. a b Georgia live updates | Protests continue into new year. 2. Januar 2025, abgerufen am 3. Januar 2025 (englisch).
  20. Deutschland erlässt Einreisesperren gegen Vertreter Georgiens. In: Der Spiegel. 1. Januar 2025, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 3. Januar 2025]).
  21. tagesschau.de: Hamburg: Theater protestieren für die georgische Freiheitsbewegung. Abgerufen am 28. Dezember 2024.
  22. Georgia live updates | Protests continue. 3. Januar 2025, abgerufen am 3. Januar 2025 (englisch).